Der Zentralrat der Juden in Deutschland feiert dieses Jahr sein 75-jähriges Bestehen. Fünf Jahre nach dem Holocaust gegründet, ist seine Aufgabe, für "Juden in Deutschland" zu sprechen. DW sprach mit Zentralratspräsident Josef Schuster über Antisemitismus und Israelkritik sowie das jüdische Leben in Deutschland.
00:00Herr Schuster, Sie feiern 75 Jahre Zentralrat der Juden.
00:041945 war die Shoah vorbei.
00:08Nur fünf Jahre danach, 1950, hat sich der Zentralrat als religiöse, gesellschaftliche, aber auch als politische Vertretung gegründet im Land der Täter.
00:20Das ist doch eigentlich erstaunlich. Wie viel Mut und Kraft hat das damals gekostet?
00:24Die Gründung des Zentralrats 1950 war nicht der erste Schritt jüdischen Lebens nach der Shoah.
00:32Eine ganze Reihe jüdischer Gemeinden hat sich erstaunlicherweise noch 1945, im Jahr des Kriegsendes, dann in den Sommermonaten wieder neu gegründet.
00:43Zum Beispiel in München, zum Beispiel in Würzburg.
00:46Mit der Zunahme jüdischer Gemeinden kam dann die Situation auf, dass es eine Interessenvertretung sicherlich sinnvoll war,
00:56die die Interessen der neu gegründeten jüdischen Gemeinden vertritt, aber insbesondere den Menschen, die in den Gemeinden organisiert waren, Hilfestellung gibt.
01:05Denn es war nicht daran gedacht, jüdisches Leben wieder auf Dauer in Deutschland zu etablieren, sondern die Überlegungen waren, Menschen zu helfen,
01:12die ihren Weg weitergehen wollten, sei es damals nach Israel oder sei es in die USA oder woanders in der Welt.
01:19Das hat sich anders entwickelt. Das jüdische Leben in Deutschland hat sich weiterentwickelt.
01:23Wo stehen Sie heute 75 Jahre nach der Gründung?
01:2775 Jahre nach der Gründung haben wir heute ein lebhaftes jüdisches Leben im ganzen Bundesgebiet.
01:37Wirklich von Flensburg bis München, von Aachen bis Cottbus in 105 jüdischen Gemeinden.
01:45Insoweit könnte man meinen, die Welt ist doch in Ordnung, das jüdische Leben blüht.
01:50Das stimmt auf der einen Seite, es stimmt auf der anderen Seite nicht.
01:53Denn gerade seit dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Hamas auf Israel, erleben wir leider auch zunehmenden Antisemitismus und Judenfeindlichkeit in der Bundesrepublik.
02:06Es gibt geschätzt etwa 250.000 Juden in Deutschland.
02:11Ungefähr die Hälfte davon ist Mitglied in der jüdischen Gemeinde.
02:14Die Zahl geht aber auch schon wieder leicht zurück seit 2006, weil nicht mehr so viele Aussiedler, Übersiedler aus der ebenbeidigen Sowjetunion kommen.
02:23Wie sehen Sie die künftige Entwicklung?
02:27Die jüdischen Gemeinden haben ein demografisches Problem.
02:30Das demografische Problem, das eine Überalterung gibt, die dazu führt, Sie haben es richtig ausgeführt, dass die Anzahl der Gemeindemitglieder etwas abnimmt.
02:40Ich denke, das wird noch ein bisschen so weitergehen.
02:42Es wird zu einer Konsolidierung kommen.
02:44Es kann passieren, und ich kann mir das vorstellen, dass die eine oder andere jüdische Gemeinde fusionieren wird mit einer in der Nähe befindlichen Gemeinde.
02:53Es werden dann vielleicht nicht mehr 105 jüdische Gemeinden sein.
02:56Aber bezüglich der Existenz jüdischer Gemeinden im ganzen Bundesgebiet mache ich mir eigentlich keine Sorgen.
03:03Der Zentralrat ist der Verbund aller jüdischen Gemeinden, ob orthodox oder liberal oder wo auch immer sie stehen.
03:10Sie sind ja nicht die oberste Religionsbehörde, die irgendwas entscheidet, wie man es zum Beispiel aus der christlichen Kirche, aus der katholischen Kirche kennt,
03:18sondern mehr auch ein kultureller Verband und vor allen Dingen ein politischer Verband.
03:23Was ist die Hauptaufgabe?
03:24Der Zentralrat ist die politische Vertretung der Interessen der jüdischen Menschen in Deutschland,
03:30unabhängig von der religiösen Ausrichtung, Sie haben es gesagt, unabhängig von den Denominationen.
03:37Unter dem Dach des Zentralrats gibt es sowohl orthodox geführte Gemeinden als auch liberale Gemeinden.
03:43Und unter dem Dach des Zentralrats gibt es auch zwei Rabbina-Ausbildungsstätten, orthodox wie liberal.
03:50Und es gibt auch entsprechenden Zusammenschluss von Rabbinern auf der orthodoxen und auch auf der liberalen Seite.
03:5875 Jahre nach der Gründung, Sie haben es schon kurz angesprochen, ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle,
04:05der Straftaten gegen Juden und andere Vorfälle so hoch wie nie zuvor.
04:11Woran liegt das?
04:13Wenn ich die Antwort auf diese Frage hätte, dann täten wir uns leichter, damit oder dagegen anzukämpfen.
04:23Es ist nämlich auch nicht nachvollziehbar und es ist auch nicht verständlich,
04:26warum zum Beispiel Vorurteile gegen Entscheidungen, die in Israel getroffen werden,
04:32auf Juden in Deutschland projiziert werden, die deutsche Staatsbürger sind.
04:36Ich kann mir des Eindrucks nicht erwehren, dass uralte, uralte antijüdische Stereotypen,
04:43die halt immer noch in der Bevölkerung präsent sind, zumindest subkutan präsent sind
04:48und gerade in solchen Situationen wieder präsent werden.
04:53Jetzt kann man die Zunahme der antisemitischen Vorfälle in den letzten zehn Jahren schon beobachten,
04:57also nicht nur in den letzten zwei Jahren, seit die Hamas Israel angegriffen hat
05:01und Israel dementsprechend dann militärisch reagiert hat und den Krieg im Gazastreifen begonnen hat.
05:07Hängt das mit zunehmender rechtsextremer Gesinnung in Deutschland zusammen,
05:12dass das schon so lange aufwärts geht?
05:15Das ist wieder die Frage jetzt vom Huhn und vom Ei.
05:18Was war zuerst da?
05:20Fakt ist, dass wir einen zunehmenden zeitlichen Abstand zur Shoah haben.
05:25In den Jahren, auch Jahrzehnten nach der Shoah, waren, glaube ich, auch die Ereignisse des Dritten Reiches noch deutlich präsenter
05:33und haben auch hier einen gewissen Schutz oder einen Faktor vor Rassismus, Antisemitismus gebildet.
05:41Die Generation, die das noch erlebt hat, gibt es nicht mehr.
05:45Weitens geht, gibt es die nicht mehr.
05:47Und in den jüngeren Generationen erleben wir einfach auch, dass hier die historische Entwicklung,
05:56der das, was in der Historie geschehen ist, langsam weit weg wird und Geschichte wird
06:01und nicht mehr auf die Gegenwart projiziert wird.
06:04Den entscheidenden Teil, eine rechtsextreme Partei AfD, hat ja große Wahlerfolge gefeiert in den letzten zehn Jahren.
06:11Sie haben mal gesagt, wenn die AfD tatsächlich irgendwann mal eine Regierung übernimmt in Deutschland
06:17oder vielleicht auch nur in einem Bundesland, dann wäre es Zeit für Juden, das Land zu verlassen.
06:22Stimmt das?
06:23Diesen Satz habe ich gesagt und zu dem Satz stehe ich unverändert.
06:26Eine Regierungsbeteiligung einer rechtsradikalen Partei wie der AfD auf Bundesebene
06:32kann ich mir mit jüdischem Leben nicht kompatibel vorstellen.
06:36Sie haben auch angesprochen, dass Juden in Deutschland, also jüdische Deutsche,
06:40oft gleichgesetzt werden mit Israel oder der israelischen Regierung.
06:46Woran liegt das, dass da nicht differenziert wird, dass man dieses Vorurteil hat?
06:52Liegt es vielleicht auch daran, dass auch der Zentralrat und auch die deutsche Regierung
06:56sich sehr auf die Seite Israels und der israelischen Regierung stellen, gerade im aktuellen Konflikt?
07:01Dass das der Grund ist, glaube ich, ehrlicherweise nicht.
07:06Es ist Fakt, dass der Zentralrat und auch die Mitgliederzentralrat, auch ich selber,
07:12natürlich Sympathien für Israel haben.
07:14Ganz einfach in der Geschichte.
07:16Hätte es ein Land wie Israel gegeben, in dem laut Rechtsprechung in Israel jeder Jude
07:22zu jedem Zeitpunkt das Recht hat, einzuwandern, wäre es nicht zu dem gekommen, zu dem es gekommen ist,
07:28dass man also hier, auch ich, sicherlich nicht den Entscheidungen in Israel immer objektiv gegenüberstehen,
07:35ist kein Zweifel.
07:36Dass die Bundesregierung nach den Geschehnissen des Dritten Reiches einem jüdischen Staat gegenüber
07:45eine entsprechende Einstellung hat, sollte eigentlich nicht verwundern.
07:50Das heißt aber nicht, dass alle Entscheidungen, die bei der israelischen Regierung getroffen werden,
07:55von allen in der Bundesregierung, von allen Juden in Deutschland deshalb als gut geheißen werden.
08:02Also man müsste mehr unterscheiden zwischen der Regierung von Benjamin Netanyahu, dem Staat Israel
08:07und den Juden in Deutschland.
08:09Ganz genau, ganz genau.
08:12Ja, die Frage ist, warum funktioniert das nicht?
08:14Ist das, will man sozusagen einen Vorteil gegen Juden pflegen oder was ist der Grund dafür?
08:19Ich glaube, wenn wir die Lösung hätten, was oder die Ursache kennen würden,
08:26täten wir uns in der Bekämpfung der Situation sicherlich leichter.
08:31Fakt ist, dass sehr gerne hier, dass eine Regierung in Israel und Handeln einer Regierung in Israel
08:41mit Juden in der ganzen Welt gleichgesetzt wird, was eben ganz klar falsch ist.
08:46Es ist ja auch nicht, wann wird es problematisch?
08:51Problematisch wird es bei den 3D, wenn Israel dämonisiert wird,
08:56wenn an Israel Doppelstandards eingelegt wird, die man auf andere Länder nicht ansetzt
09:01oder delegitimiert wird.
09:03Das heißt, das Existenzrecht des Staates Israel aber erkannt wird.
09:06Ansonsten Kritik an einer Regierung zu üben, sei es Regierung Netanjahu,
09:12aber theoretisch auch bei Entscheidungen der Bundesregierung,
09:15ist doch was ganz Legitimes in einer Demokratie.
09:18Wir sind ja im Haus des Zentralrats der Juden mitten in Berlin.
09:23Vor dem Gebäude steht Polizei.
09:25Fast 200 jüdische und israelische Einrichtungen in Berlin müssen dauernd von der Polizei geschützt werden.
09:31Manche Juden trauen sich nicht mehr, sich als Juden in der Öffentlichkeit erkennen zu geben.
09:37Fühlen Sie sich hier noch sicher?
09:40Wir müssen einmal differenzieren.
09:43Sie haben Berlin angesprochen, sich als Jude offen erkennen zu geben.
09:48Zum Mitteltragen einer Kippa oder eines Davidsterns ist in nicht wenigen Vierteln in Berlin
09:56tatsächlich problematisch geworden, was ich ausdrücklich bedauere.
10:02Aber Berlin ist nicht die Bundesrepublik.
10:04Wir haben unterschiedliche Situationen.
10:07Wir haben Probleme in Städten wie Berlin, in Großstädten auch wie in Frankfurt.
10:12Aber in vielen Orten der Bundesrepublik kann man sich auch als Jude ganz klar erkennbar auf der Straße bewegen,
10:19ohne Sorgen haben zu müssen.
10:20Sie tragen das Abzeichen für die Geiseln, die noch in der Gewalt der Hamas sind.
10:26Eine Frage dazu noch.
10:28Meinen Sie, die Bundesregierung tut genug, um ja auch die Deutschen, die unter diesen Geiseln sind,
10:33es sind wahrscheinlich fünf, die noch am Leben sind, die deutsche Staatsbürger sind,
10:38da herauszubekommen?
10:39Müsste man nicht da auch mehr Druck, natürlich auf die Hamas, aber auch auf Israel, auf die Regierung ausüben?
10:44Also ich glaube, wir müssen uns im Klaren sein, der ganze Konflikt, das heißt auch das Leben der Geiseln,
10:51wäre in einem Tag behoben, das ganze Thema, wenn die Hamas die Waffen niederlegt und die Geiseln freilässt.
11:01Der ganze Konflikt wäre vorbei.
11:03Also der Schlüssel liegt bei der Hamas.
11:07Der Zentral der Juden beschäftigt sich natürlich mit diesen politischen Themen, das haben Sie alles angesprochen.
11:11Aber es gibt ja auch eine andere Seite, Sie fördern auch das kulturelle Leben, Jugendarbeit, Sport und andere Dinge.
11:19Es gibt zum Beispiel auch Eurovision, habe ich gesehen.
11:24Das ist ein Wortspiel natürlich, angelehnt an Eurovision Song Contest.
11:30Was machen Sie da bei Eurovision?
11:32Es handelt sich um einen Musik- und Tanzwettbewerb der Jugendzentren der jüdischen Gemeinden.
11:40Es wird ein Motto vorgegeben und einmal im Jahr, an einem Wochenende, treffen sich die Jugendzentren,
11:48präsentieren ihren Beitrag dazu, also ein circa vierminütiger Beitrag mit Musik und Tanz zu diesem Thema.
11:57Ein Wettbewerb, der sich inzwischen sehr etabliert hat und an den Orten jeweils doch auch ungefähr 1500 bis 2000 Zuschauer anzieht
12:07und für die Jugendlichen in dem Gemeinschaftserlebnis, auch Jugendliche anderer Gemeinden kennenzulernen, von einem unschätzbaren Wert ist.
12:15Also es gibt auch fröhliches jüdisches Leben, nicht nur das Reden über Antisemitismus.
12:19Es gibt absolut auch fröhliches jüdisches Leben, nicht nur Antisemitismus, Gott sei Dank.
12:25Herr Schuster, vielen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch.
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