Zum Player springenZum Hauptinhalt springenZur Fußzeile springen
  • gestern
Im Herbst 1985 gibt es auf der Neugeborenstation der Leipziger
Frauenklinik besondere Vorkommnisse. Vier Neugeborene sterben.
Die Klinikleitung kann nicht ausschließen, dass die Kinder
vorsätzlich vergiftet wurden.

Kategorie

📺
TV
Transkript
00:00Städtische Frauenklinik Leipzig, Januar 1986.
00:09Auf der neugeborenen Station kommt es mehrfach zu Unregelmäßigkeiten.
00:15Die Babys sind unruhig und verweigern zu trinken, viele werden krank.
00:21Mitte Januar erkrankt ein drei Tage altes Mädchen so schwer,
00:25dass es auf die Intensivstation der Universitätsklinik gebracht werden muss.
00:30Die Symptome Herzrhythmusstörungen. Das Baby kann gerettet werden.
00:38Doch als wenig später ein zwei Tage alter Junge ebenfalls mit Herzrhythmusstörungen eingeliefert wird,
00:46können die Ärzte in der Universitätsklinik für den Neugeborenen nichts mehr tun.
00:50Das hat uns natürlich sehr verunruhigt damals, aber es gab keine Anhaltspunkte auf spezifische Krankheiten,
01:07die wir hätten ausschalten können zu diesem Zeitpunkt.
01:10Hier im ehemaligen Frauenkrankenhaus in Leipzig kommt es Anfang 1986
01:15zu einer merkwürdigen Häufung von Kindstoden bei Neugeborenen.
01:20Der gute Ruf der Klinik gerät in Gefahr unter den Mitarbeitern des Krankenhauses machen sich zweifelbreit.
01:27Steckt ein Verbrechen hinter den Vorkommnissen in der Klinik?
01:31Das wäre geeignet, Unruhe unter der Bevölkerung auszulösen und so etwas darf es in der DDR nicht geben.
01:37Deshalb muss der Fall schnellen und vor allen Dingen diskret gelöst werden.
01:41Dafür gibt es in der DDR eine Spezialabteilung, die dann tätig wird,
01:46wenn selbst die Volkspolizei von dem Fall nichts erfahren darf.
01:49Das Untersuchungsorgan der Staatssicherheit.
02:02Städtische Frauenklinik Leipzig, Februar 1986.
02:07Immer mehr Babys werden krank.
02:09Die Anzahl der Vorfälle übersteigt die Norm bei Weitem.
02:18Ja, es ist natürlich eine Periode im Leben, die sehr risikobehaftet ist.
02:25Und leider haben wir da auch immer Todesfälle zu verzeichnen gehabt.
02:28Aber das war mehr als gewöhnlich.
02:32Und auch die Ursachen, die wir nicht so genau zuordnen konnten, das war das Beunruhigende.
02:39Am 17. März 1986 stirbt wieder ein kleiner Junge.
02:44Er wurde nur zwei Tage alt.
02:47Schwestern und Ärzte sind langsam ratlos und panisch.
02:51Die Untersuchungen ergeben keinen Hinweis auf die Ursache der Herzrhythmusstörungen.
02:55Trotzdem stirbt ein weiteres kleines Mädchen am 2. April an diesen Symptomen.
03:03Am 10. April muss noch ein kleiner Junge auf die Intensivstation gebracht werden.
03:08Er stirbt noch auf der Fahrt.
03:09Es waren mehrere Kinder hintereinander und es trat immer wieder, weil dort in der Kinderklinik dann auch EKG-Untersuchungen gemacht wurden,
03:19der Verdacht auf eine digitale Überdosierung auf, sodass die Kinderklinik dann bei dem einen Kind praktisch eine toxikologische Untersuchung des Blutes angeordnet hatte.
03:31Und die hat den Nachweis gebracht, dass Medikament im Blut war.
03:39Digitoxin heißt das Medikament, das sich im Blut der Kinder befindet.
03:43Digitoxin ist ein Arzneimittel, das das Herz stärken soll.
03:47Überdosiert aber führt es zu Herzrhythmusstörungen bis zum Kammerflimmern.
03:54Im Blut aller verstorbenen Babys wird Digitoxin in tödlichen Mengen nachgewiesen.
04:02Sind die Säuglinge auf der Kinderstation in Lebensgefahr?
04:17In dem Moment war mir also klar, dass hier praktisch Vergiftungen an den Kindern vorgenommen worden sind.
04:27Aber wer sollte so etwas tun? Wer würde Neugeborene sterben lassen?
04:37Und dann kommt es zu einer weiteren Manipulation.
04:40Das war im März, wo ich zum Ostern, wenn ich mich richtig erinnere, wo ich zum Dienst gerufen wurde, weil alle Kinder schlecht tranken und weil die Kinder sehr unruhig waren.
04:54Viel geschrien haben und erbrochen haben.
04:58Und als ich auf der Station ankam, haben diversierten Schwestern aber schon die Milch gekostet und festgestellt, dass die also total versalzen waren.
05:07Eigentlich normalerweise kann so etwas überhaupt nicht vorkommen.
05:10Und wir standen also vor einem Rätsel.
05:12Die Milch, das war ja Frauenmilch, die wir von der Frauenmilch-Sammelstelle der Universitätskinderklinik bekommen haben.
05:19Und wo dieses Salz in die Milch gekommen war, das war uns zunächst völlig unklar.
05:31Auch der leitende Arzt der Abteilung, Dr. Wolfgang Springer, ist entsetzt.
05:35Sind die Säuglinge in seiner Klinik tatsächlich in Todesgefahr?
05:41Arbeitet der Verbrecher im Kollektiv der Frauenklinik?
05:44Aber an wen soll er sich wenden?
05:50Wenn das bekannt wird, dass auf seiner Station Neugeborene vergiftet werden, würde das auf ihn selbst zurückfallen.
06:00Springer will sich absichern und ruft den Leiter der Stasi-Bezirksverwaltung Leipzig an.
06:05Guten Tag, Major Humitsch. Hier ist Dr. Springer.
06:16Generalmajor Manfred Humitsch rät dem Arzt, Anzeige zu erstatten.
06:21Allerdings nicht bei der Kriminalpolizei, sondern bei der Staatssicherheit.
06:25Es war eine sehr schwere Straftat. Es war eine Straftat, die die Bevölkerung verunsicherte.
06:36Und es war eine Straftat, die eigentlich nicht vorkommen sollte.
06:39Und deshalb geheim gehalten werden musste.
06:42Und da war natürlich klar, dass die Stasi das möglichst in eigener Regie ermittelte.
06:49Und dann eben auch gar nicht die Kriminalpolizei einbezog, weil die, sobald das sozusagen außerhalb der Stasi verhandelt wurde,
07:00war es nach den Maßstäben der Stasi nicht mehr wirklich richtig geheim.
07:06Die Hauptverwaltung Leipzig des Ministeriums für Staatssicherheit, wegen ihrer markanten Form, wurde sie von der Bevölkerung Runde Ecke genannt.
07:14Die Staatssicherheit war in der DDR in Form von Bezirksverwaltungen quasi spiegelbildlich zum Ministerium des Innern gegliedert.
07:24Folgerechtig gab es neben der Volkspolizei auch ein eigenes Untersuchungsorgan der Staatssicherheit,
07:30das dazu da war, bei besonderen Verbrechen sehr schnell zu ermitteln, um den Fall nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.
07:38Die schnelle Eingreiftruppe der Staatssicherheit wurde Spezialkommission genannt.
07:44Mit der Spezialkommission steht im MFS rund um die Uhr ein Team hervorragend ausgebildeter Kriminalisten zur Verfügung,
07:58das parallel zur Volkspolizei ermitteln kann und diese gar nicht informieren muss.
08:02Wenn die Staatssicherheit das wollte, konnte sie so ein Fall auf eine Art und Weise untersuchen, dass die Kriminalpolizei gar nicht involviert war.
08:18Die Staatssicherheit war der große Bruder, der letztendlich bestimmte, welche Angelegenheiten es in seinen Zuständigkeitsbereich zog.
08:26Und gilt dann also in den 70er und vor allem in den 80er Jahren als die Deluxe-Abteilung in diesem Bereich.
08:34Und wird deshalb dann auch für Aufklärung besonders schwerwiegender Taten eingesetzt, wo man von vornherein schon wusste,
08:41dass die keinen politischen Hintergrund haben konnten, also wie Serienmorde oder ähnliches.
08:46Auch der Direktor des Leipziger Stasi-Museums, Tobias Hollitz, sei es der Meinung, dass diese Kindstötungen ein Fall sind,
08:56den die Stasi unter keinen Umständen nach außen dringen lassen wollte.
09:00Das heißt, in der öffentlichen Wahrnehmung sind diese Dinge immer wieder verduscht worden.
09:12Also auch normale kriminelle Straftaten, gerade auch Sexualstraftaten, ähnliche Dinge,
09:18die vor Ort ja immer für große Aufregung und für große Verunsicherung in der Bevölkerung gesorgt haben,
09:23hat man in all den Jahrzehnten versucht, so weit wie irgend möglich unter den Deckel zu halten.
09:30Deshalb wird die Untersuchung der Todesfälle ausschließlich der Leipziger Spezialkommission übertragen.
09:37Die Kriminalpolizei wird gar nicht erst informiert.
09:42Bereits am Abend des 10. April 1986, dem Tag, an dem ein weiteres neugeborenes Kind an seltsamen Herzrhythmusstörungen verstirbt,
09:52kommt die Eingreiftruppe in der Frauenklinik zum Einsatz.
09:55Im Gegensatz zur Volkspolizei kann die Spezialkommission auch alle inoffiziellen und geheimdienstlichen Methoden der Staatssicherheit nutzen.
10:06Inoffizielle Hausdurchsuchungen, Abhören und Verwanzen von Telefonen.
10:12Rolf Weinhold war Mitglied der Spezialkommission.
10:15Spezielle Fälle haben wir zu 100 Prozent gemacht.
10:20Da war die Mordkommission gar nicht mit dabei.
10:22Um das ganze Vorfeld hier zu orten, hätten wir die Möglichkeit gehabt,
10:28im Vorteil gegenüber den Polizeibehörden,
10:32dass wir also die zuständigen Diensteinheiten oder Diensteinheit von der Stadtsicherheit hätten befragt,
10:39wer da für das Krankenhaus oder für diesen medizinischen Bereich zuständig gewesen ist zum damaligen Zeitpunkt,
10:45hätten wir die also gefragt, was ist hier im Vorfeld passiert,
10:49was gibt es hier für Verdächtigungen oder für Anhaltspunkte.
10:55Und auch was die Technik vor Ort anbelangt,
10:58ist die Spezialkommission weitaus besser ausgestattet als die Kriminalpolizei.
11:03Und stolz darauf.
11:04In der DDR war ja Mangelwirtschaft, in der DDR gab es halt,
11:10das ging los bei den zuständigen Dienstwagen, also PKWs oder Transporter,
11:16was also bei der Kriminalpolizei sehr eng bemessen war.
11:19Das war teilweise ein Witz, die hatten also ein Spritkontingent,
11:22die konnten also nur so und so viel tanken und dann,
11:26sag ich jetzt mal, humorfrei ausgedrückt, dann musste man mit der Straßenbahn fahren.
11:30Und die sonstige Technik, die der Kriminalpolizei oder auch der Mordkommission,
11:34zur Verfügung stand, also sprich Schallaufzeichnungsgeräte,
11:38Turmweingeräte, Fotogeräte, Sporensicherungsmaterial,
11:44das war halt alles von der Qualität her nicht so besonders gut.
11:48Also wir hatten diesbezüglich keine Probleme,
11:50wir konnten uns also in der Westdeutschland, sag ich jetzt mal,
11:56konnten wir uns also mit den modernsten hier Techniken versorgen.
12:00Als die Ermittler der Spezialkommission am Abend des 10. April die Frauenklinik betreten,
12:10sind sie mit Originalausweisen der Kriminalpolizei ausgestattet,
12:14die sie anstelle der Ausweise der Staatssicherheit vorzeigen.
12:20Die befragten Schwestern und Ärzte wissen gar nicht,
12:23dass sie es nicht mit Kriminalbeamten, sondern mit Stasi-Leuten zu tun haben.
12:30Die Ermittler der Spezialkommission beginnen sofort mit der Untersuchung der rätselhaften Vorgänge
12:38und haben bald eine erste Spur.
12:43Eine Krankenschwester fällt auf,
12:46denn sie war immer auf der Station,
12:48wenn es zu den tödlichen Vorfällen gekommen war.
12:50Simona K.
12:57Simona K. ist gerade erst 20 Jahre alt und gilt als ruhige und zuverlässige Schwester.
13:03Sie hatte Zugang zu den Medikamentenschränken, in denen das Digitoxin aufbewahrt wurde.
13:09Nächtelang hatte sie alleine Dienst.
13:12Aber es gibt noch eine Verdächtige.
13:15Die Oberärztin der Frauenklinik, Dr. Helga Lemme.
13:18Auch sie hatte Zugang zu den Medikamenten und tat alleine Dienst.
13:26Bereits am 18. April 1986 nehmen die Ermittler Dr. Helga Lemme und Simona K.
13:32in Gewahrsam und bringen sie in die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit nach Leipzig.
13:37Doch sehr schnell wird klar,
13:46dass die Oberärztin nichts mit den Mauten zu tun hat.
13:51Der Vernehmer hat sich völlig korrekt mir gegenüber verhalten,
13:56hat sich vorgestellt und hat mich halt befragt am Anfang.
13:59Und im Laufe des Gesprächs habe ich aber dann doch gemerkt,
14:03dass sich die Situation zumindest für mich entspannte
14:06und dass es dann eher in eine Zeugenvernehmung überging als in ein Verhör.
14:15Der Verdacht gegen die Kinderkrankenschwester jedoch erhärtet sich.
14:20Nach dem Anfangsverdacht beweisen Dienstpläne und Behandlungspläne,
14:25dass beim oder kurz vor dem Tod eines Neugeborenen
14:28immer eine Schwesterdienst hatte, Simona K.
14:31Sollte es tatsächlich wahr sein, dass die Krankenschwester planmäßig Säuglinge vergiftet hat?
14:40Und wenn sie es getan hat, warum?
14:43In der Frauenklinik beschäftigen diese Fragen auch das Kollektiv der Schwestern und Ärzte.
14:49Ist ihre Kollegin tatsächlich eine Mörderin?
14:53Wohin ist sie verschwunden?
14:54Wurde sie bereits verhaftet?
14:59Doch nur die Oberärztin traut sich, Fragen zu stellen.
15:02Ich habe dann auch gefragt noch, wieso die Staatssicherheit hier ermittelt
15:06und nicht die Kriminalpolizei.
15:09Und da wurde mir gesagt, dass doch am Anfang ein möglicher Zusammenhang
15:16mit irgendwelchen schömischen Kampfstoffen bestanden hätte.
15:20Und auch wegen der Größe des Verbrechens oder der Schwere des Verbrechens
15:24hätte sich halt hier die Staatssicherheit eingeschaltet.
15:27Am 19. April 1986 wird Simona K. wegen des drängenden Tatverdachts des Mordes
15:37vorläufig festgenommen und in die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit eingewiesen.
15:42Simona K. gilt als pflichtbewusste Schwester,
15:56die sich aufopferungsvoll den ihr anvertrauten Kleinkindern widmet.
16:01Zunächst streitet sie alle Vorwürfe ab.
16:04Doch schon am zweiten Tag beginnt sie zu bestehen.
16:06Ich wollte das Kind nicht umbringen.
16:10Ich habe Digitoxin gespritzt.
16:12Das war ganz früh, gegen 4 Uhr morgens etwa.
16:15Da habe ich die Spritze aufgezogen und das Digitoxin-Glucose-Gemisch
16:19in das Tropfsystem des Neugeborenen gespritzt.
16:22Ich gebe zu, dass ich dem Kind Digitoxin gespritzt habe,
16:25obwohl ich dazu ärztlicherseits nicht aufgefordert worden war.
16:32Mehr als ein ganzes Jahr wird die Kinderkrankenschwester
16:36im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Leipzig bleiben.
16:42Für die Leipziger Spezialkommission ist diese schnelle Verhaftung ein großer Erfolg.
16:48In ihrem Bericht an Erich Mielke heißt es,
16:51Durch den konzentrierten Einsatz aller verfügbaren Kräfte der SK
16:55und weiterer Mitarbeiter der Abteilung 9
16:57konnte bereits am 18. April 1986 gegen eine Krankenschwester
17:03ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden.
17:06Diese Information ist als streng geheim zu betrachten.
17:15Ein völlig gleichartiger Fall konnte in Leipzig zu solchen Entwicklungen führen,
17:19dass die Staatssicherheit ermittelt, dass die SED sich Gedanken macht,
17:22wie das Urteil am Ende aussehen soll.
17:24In Rostock unter Umständen hätte die Kriminalpolizei ermittelt
17:28und es wäre einer unter vielen normalen Kriminal- und Mordfällen gewesen.
17:32Das hing ganz viel davon ab, wie die jeweiligen regionalen SED-Funktionäre,
17:36Stasi-Funktionäre den Fall eingeschätzt haben,
17:39welche Bezüge sie zu den Opfern, zu den Tätern hatten
17:42und anderen Rahmenbedingungen, die mit der eigentlichen Tat für sich genommen
17:47überhaupt nicht in Bezug standen.
17:48Leipzig, Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit, September 1987.
17:56Zweimal am Tag wird Simona K. verhört.
18:00Der Fall wird als politisch-operativ bedeutsame Straftat eingeordnet,
18:04als sogenannter gesellschaftsgefährdender Akt,
18:08der sich gegen die Interessen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft richtet.
18:11Vier vollendete und ein versuchter Mord an Neugeborenen
18:18werden der jungen Frau mittlerweile vorgeworfen.
18:26Scheinbar ohne jede Regung nimmt sie die Anklage entgegen
18:30und würden ihre Zelle zurückgebracht.
18:41Ich treffe den forensischen Psychiater Matthias Lammel.
18:46Der Gutachter hat die Kinderkrankenschwester 15 Jahre nach den Taten im Gefängnis getroffen,
18:51weil er beurteilen sollte, ob sie aus der Haft entlassen werden kann.
18:58Dr. Lammel, was hatten Sie denn für einen Eindruck von der Frau,
19:01die vier Neugeborene umgebracht hat und es bei einem weiteren jemanden noch versucht hat?
19:07Frau K. hatte eine schwere psychische Fehlentwicklung.
19:11Die mit einer gravierenden Kontakt- und Beziehungsstörung einherging,
19:16aus der heraus sie auch überwärtige Ideen entwickelt hat,
19:20fixe Ideen entwickelt hat,
19:23aus denen heraus sie die Welt wahrgenommen hat,
19:26was zugleich natürlich auch einen Verlust an Realitätsbezug beinhaltete.
19:31Das heißt, sie hat Mädchen, neugeborene Mädchen wahrgenommen,
19:35als Wesen, die ein schlimmes Schicksal erleiden könnten.
19:39Und sie hat neugeborene Jungen wahrgenommen als potenzielle Täter,
19:44die Taten zum Nachteil von Mädchen begehen könnten.
19:48Das war ein Motivstrang, der dann zu den Tötungsdelikten geführt hat,
19:53um die Kinder vor diesem angenommenen Schicksal zu bewahren.
19:58Im Gefängnis gibt Simona K. an,
20:04dass sie als Kind jahrelang von ihrem Vater missbraucht wurde.
20:08Das zumindest hat sie ihrem Tagebuch anvertraut.
20:13Das Tagebuch führt Simona K. auch weiterhin.
20:16In immer unleserlicherer Handschrift
20:19zeugt es vom langsamen Abdriften eines Menschen,
20:23der schleichend den Bezug zur Realität verliert.
20:27Ihr erstes sexuelles Erlebnis,
20:30das sie nach einem Fest als 18-Jähriger hat,
20:33empfindet sie als demütigend.
20:36Simona Kahn entwickelt einen Hass auf Männer.
20:38Da sie diesen jedoch nicht abreagieren kann,
20:41beginnt sie, die Neugeborenen zu vergiften.
20:43Als der Vertrag der Oberärzte nicht verlängert wird
20:47und sie von einem männlichen Vorgesetzten ersetzt werden soll,
20:50beschließt Simona Kahn, die Muttermilch zu versalzen.
20:54So will sie dem neuen Chef Schwierigkeiten bereiten,
20:56damit er den Posten verliert.
20:58Immer weniger ist sie in der Lage,
21:00ihre verzerrte Wahrnehmung von der Realität zu unterscheiden.
21:04In den Gesprächen mit ihr ist da deutlich geworden,
21:07was der Auslöser für die Morde war.
21:10Es gibt einen konkreten Fall, der darin bestand,
21:12dass ein Arzt zu ihr gesagt hat,
21:16nach der Rettung eines Kindes,
21:18dass er dieses Kind heiraten werde,
21:20wenn es mal was Vernünftiges werde, später.
21:24Das hat Frau K. zu der Frage veranlasst,
21:26was denn etwas Vernünftiges sei.
21:28Und daraufhin hat sie die Antwort bekommen,
21:30mindestens eine Bordellbesitzerin.
21:33Und das hat natürlich ihre Wahrnehmungsperspektive
21:35der Welt und des Schicksals der Kinder bedient.
21:39Und das hat dann zu der weiteren Tat geführt.
21:43Bereits 1987 wird Simona K. im Untersuchungsgefängnis
21:47einem ersten psychiatrischen Gutachten unterzogen.
21:51Dr. Böttger, ein zu DDR-Zeiten hoch angesehener Psychiater, schreibt.
21:55Zusammenfassend ließ sich eine erhebliche primär-neurotische,
22:00psychische Fehlentwicklung mit ausgeprägter Kontakt- und Bindungsschwäche,
22:04Neigung zu anhaltenden Verschiebungen in der Wahrnehmung,
22:08permanente Suizidwünsche und eine sexuelle Fehlentwicklung konstatieren.
22:13Deshalb schlägt der Gutachter für Simona K.
22:16verminderte strafrechtliche Verantwortlichkeit gemäß § 16 vor.
22:21Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Leipzig.
22:26Am 12. August 1987 treffen sich hohe Kader des öffentlichen Gerichts,
22:31des Generalstaatsanwalts der DDR und des Ministeriums für Staatssicherheit
22:35zu einer inoffiziellen Zusammenkunft.
22:39Die Vorbereitung der gerichtlichen Hauptverhandlung gegen die Krankenschwester Simona K.,
22:44insbesondere zur Verhinderung negativer öffentlichkeitswirksamer Maßnahmen
22:49gegen das staatliche Gesundheitswesen.
22:52Solche Treffen, bei denen man sich im Voraus darauf einigt,
22:56was bei einem Gerichtsverfahren herauskommen soll, sind üblich in der DDR.
23:01Dieser Operativvorgang, diese Ermittlungen können das Vertrauen der Bevölkerung
23:06in unser staatliches Gesundheitswesen nachhaltig stören.
23:10Bei diesem Treffen wird, im Widerspruch zum geltenden DDR-Recht,
23:14folgende Verfahrensweise festgelegt.
23:17Die Durchführung der Hauptverhandlung erfolgt unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
23:24Die geschädigten Eltern werden weder vom Termin benachrichtigt, noch als Zeugen geladen.
23:29Die Gründe hierfür bestehen in der Gefährdung der Öffentlichkeit
23:37und in der Notwendigkeit der Geheimhaltung bestimmter Tatsachen wie die Todesursache der Kinder.
23:45Nach Abschluss der Verhandlung erfolgt weder eine Information an die Eltern,
23:56noch an das Arbeitskollektiv der Angeklagten.
24:04Der Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
24:08Das eingeholte Gutachten hat zwar auf verminderte Schuldfähigkeit erkannt,
24:13doch das Gericht folgt der Empfehlung des Gutachters nicht.
24:17Simona K. wird als in vollem Umfang strafrechtlich verantwortlich
24:21wegen mehrfachen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
24:26Das Gericht ist nicht darauf eingegangen. Wie erklären Sie sich das?
24:30Zum einen ist es grundsätzlich so, dass die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit,
24:35wie es in der DDR hieß, oder der Schuldfähigkeit, eine Kannbestimmung ist.
24:41Das Gericht muss sich nicht danach richten.
24:43Die DDR hat eine Besonderheit.
24:45Sie hat 1968 sich ein neues Einweisungsgesetz geschaffen.
24:51Das sah aber nur die Behandlung und die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus
24:56nach Vollverbüßung der Strafe oder für den Fall vor,
24:59dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden konnte.
25:02Das bedeutete, dass Straftäter mit langen oder lebenslangen Haftstrafen
25:07eine Therapie versagt geblieben ist.
25:11Im Krankenhaus erfahren Schwestern und Ärzte nichts von dieser Entscheidung.
25:17Aber auch die Eltern der getöteten Kinder
25:20werden nicht über die Rechtsverhandlung und das Urteil informiert.
25:24Da ich wohl die Staatssicherheit natürlich mit allen Mitteln und Methoden gearbeitet hat,
25:29die sie als kommunistische Geheimpolizei hatte,
25:32von innofiziellen Mitarbeitern über illegales Telefonabhören,
25:35Wansen einbauen und Ähnliches,
25:36haben sie nach außen hin immer versucht,
25:38einen rechtsförmigen Prozess sozusagen zu ermöglichen,
25:42haben die Akten, die nach draußen gingen, ins Gericht,
25:46quasi rechtsförmig geführt nach DDR-Recht
25:48und haben auch über die Staatsanwälte und über die Richter
25:52ein in Anführungsstrichen normales rechtsförmiges Verfahren konstruiert,
25:57haben aber eben darüber, dass sie die personelle Besetzung
25:59dieser Richter und Staatsanwälte organisiert haben,
26:02sichergestellt, dass dort nichts anderes läuft,
26:04als das, was sie selber sich vorher vorgestellt haben.
26:06Die Kindermorde an der Leipziger Frauenklinik
26:12sind erfolgreich vertuscht worden, doch damit nicht genug.
26:14Jetzt soll auch noch sichergestellt werden,
26:17dass das Unrecht auf keinen Fall aufgedeckt wird.
26:20Die Eltern der ermordeten Kinder werden überwacht.
26:26Doch zuvor werden sie in die Bezirksverwaltung
26:28der Staatssicherheit in Leipzig an Dietrichring bestellt.
26:36In stundenlangen Sitzungen werden die Eltern der getöteten Kinder
26:41zu unbedingter Geheimhaltung aufgefordert.
26:45Dass ihre Kinder ermordet worden sind, erfahren sie nicht.
26:55Stattdessen werden sie monatelang von der Spezialkommission
26:59mit den üblichen Methoden überwacht.
27:06Simona K. setzt ihre lebenslängliche Freiheitsstrafe ab.
27:20Im Gefängnis unternimmt sie mehrere Selbstmordversuche.
27:24Nach der Wende könnte sie vorzeitig aus der Haft entlassen werden.
27:39Doch sie lehnt ab,
27:40da sie sich selbst immer noch als gefährlich einschätzt.
27:46Die Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung wiederum
27:49ist aus der komplizierten juristischen Konstellation heraus unmöglich.
27:592009 wird sie schließlich doch,
28:01nach mittlerweile fast 25 Jahren Haft, entlassen.
28:07Nach nur einem Jahr in Freiheit
28:09wird sie tot in ihrer Wohnung aufgefunden.
28:13Ob es Selbsttötung war,
28:15kann nicht mehr festgestellt werden.
28:19Verbrechen wie diese wurden in der DDR verheimlicht.
28:26Die Betroffenen wurden gleich zweimal zum Opfer.
28:28Zum einen durch den Verlust ihrer Angehörigen
28:30und zum anderen, weil sie nicht erfahren durften,
28:33was damals wirklich geschah.
28:36Sie wurden um ihr Recht auf Information und Aufklärung betrogen.
28:40Untertitelung.
28:53Untertitelung des ZDF, 2020

Empfohlen