Polens neuer Präsident polarisiert. Die einen feiern den Nationalisten Karol Nawrocki, andere befürchten Rückschritte – etwa beim Thema LGBTQ und Abtreibung.
00:24Jetzt mache ich mir Sorgen, was mit den Ukrainern passieren wird.
00:28Viele junge Leute haben Nawrotsky zum Präsidenten gewählt, aber nicht alle.
00:35Die jungen Polen werden auf die Straße gehen.
00:50Was will der 17-jährige Schüler Paweł Morzek im Sejm, dem polnischen Parlament?
00:55Er hat eine Schüleraktion ins Leben gerufen, die junge Leute für Politik interessieren will.
01:01Und er hat einen Brief mitgebracht, nach dem Motto, was tut ihr Politiker eigentlich für uns junge Leute?
01:07Den Brief will er jetzt dem Parlamentspräsidenten persönlich überreichen.
01:12Aufgeregt?
01:14Ja, natürlich, aber ich hoffe auf eine Antwort.
01:16Es ist ja nicht sicher, dass Politiker auf junge Menschen, Aktivisten, Organisationen reagieren.
01:20Aber hoffentlich dieses Mal.
01:39Guten Tag, Paweł Morzek von der Schüleraktion.
01:46Wir haben gestern einen Brief für den Präsidenten.
01:49Also ich habe eine große Bitte, denn wir haben da unser eigenes System.
01:53Sie müssten eine Etage tiefer.
02:01Freundlich abgewimmelt, könnte man sagen.
02:03Paweł will nur ein Gespräch mit dem Parlamentspräsidenten.
02:06Und jetzt muss er quer durchs Haus runter zur Poststelle, um seinen Brief loszuwerden.
02:10Im Rahmen unserer Präventionskampagne Junge Menschen wählen, haben wir ja hunderte junge Leute gesprochen, die uns von ihren Problemen erzählten.
02:20Unter anderem im Zusammenhang mit Bildung, psychischer Gesundheit, Klima, Wohnungspolitik.
02:27Aber Stopp! Warum das alles jetzt?
02:30Darum. Polen ist fast in einer Staatskrise und die jungen Leute haben sie noch verschärft.
02:35Ein neuer Präsident auf Konfrontationskurs zur Regierung.
02:39Karol Nawrotzki.
02:41Rechtspopulist, Boxer, kaum politische Erfahrung.
02:44Gerade Jüngere unter 40 haben ihm die Mehrheit verschafft.
02:4853 Prozent von ihnen stimmten für Nawrotzki.
02:53Warum ist der Präsident so wichtig?
02:55In Polen braucht die Regierung seine Unterstützung.
02:58Er kann Gesetze stoppen.
03:00Schlecht für die Regierung des populären Premier Donald Tusk.
03:05Als sie ins Amt kam, waren Euphorie und Hoffnung riesig.
03:09Tusk hatte die rechtspopulistische Herrschaft der Partei PiS beendet, nach acht Jahren.
03:14Aber wirklich auf Dauer?
03:17Tusk zimmerte eine Vier-Fraktionen-Koalition, die sich vor allem selbst blockiert und Wähler enttäuscht,
03:24sagt die politische Influencerin Ruzsa Czeplinska.
03:27Der Hauptvorwurf der Wähler gegen die Regierung ist,
03:34dass sie die Gesetze, die sie versprochen hat, nicht umgesetzt hat.
03:40Die Regierung hat nur Probleme.
03:42Die Streitigkeiten innerhalb der Koalition,
03:44dann auch noch der neue Präsident, der nicht zur Koalition gehört.
03:47Und außerdem die soziale Unzufriedenheit.
03:50Tusk tut mir jetzt fast schon ein wenig leid für das, was gerade in der Regierung passiert.
03:53Der liberale Tusk muss mit dem Rechtspopulisten Nawrotsky zusammenarbeiten.
04:01Wie soll das gut gehen?
04:03Das fragt sich Tusk nicht nur selbst.
04:04Er fragt das Parlament.
04:06Habe ich noch euer Vertrauen?
04:08Ein Nein wäre das Ende der Koalition.
04:11Eine spannende Abstimmung.
04:13Pavel Murasek ist dabei, Ruzsa Czeplinska ebenso.
04:16Am Ende gewinnt Tusk.
04:19Die Staatskrise ist erst mal abgewendet, aber die Herausforderungen bleiben.
04:27Das größte Problem der polnischen Regierung ist,
04:30dass sie aus vier Fraktionen besteht,
04:32die sich in den grundlegenden Fragen nicht einigen können.
04:35Die grundlegenden Fragen wollen wir uns genauer ansehen.
04:40Drei Punkte.
04:43Abtreibung, Migration, LGBTQ.
04:47Wir treffen zuerst Emilia Niemiec in Warschau.
04:52Ganz in der Nähe des Parlaments hat sie mit ihrem Verein einen Laden eröffnet.
04:57Abu Tak heißt so viel wie Abtreibung Ja.
05:00Hier werden Frauen beraten, die ungewollt schwanger wurden.
05:03In Polen gilt noch immer ein sehr strenges Gesetz, das Abtreibung nahezu verbietet.
05:08Die Koalition wollte das Gesetz lockern, konnte sich aber nicht darauf einigen.
05:12Für uns ist es sogar schlimmer geworden,
05:15weil die ganze Welt denkt, dass wir eine liberale Regierung haben.
05:19Dabei bekommen wir jetzt weniger Unterstützung.
05:21Und die Regierung hat nach ihrem Wahlsieg versprochen,
05:24sich um die Rechte der Frauen, um Queere und um Abtreibung zu kümmern.
05:28Sie hat aber nichts getan.
05:31Normal ist für die Aktivistinnen nichts.
05:33Der Verein wird dafür angefeindet,
05:35dass er sich für liberale Abtreibungsgesetze stark macht.
05:39Auch Abtreibungspillen können hier eingenommen werden.
05:41Vor dem Haus regelmäßig Lärm und Stinkbomben.
05:47Alle paar Tage, manchmal zweimal die Woche, manchmal drei- oder viermal,
05:51aber immer wieder gibt es Proteste vor dem Eingang.
05:54Sie terrorisieren die ganze Straße, nicht nur uns.
06:01Ist der Rechtspopulismus wirklich überwunden?
06:04Wo ist die Euphorie geblieben?
06:06Darüber reden wir in Danzig, der Metropole im Norden von Polen.
06:09Vor einem Laden mitten in der Stadt stehen sie schon Schlange,
06:13Geflüchtete aus der Ukraine.
06:17Seit dem Angriffskrieg Russland sind in Polen fast eine Million registriert worden.
06:24Hier wird heute Milch verteilt.
06:27Die Nachfrage ist immer noch groß.
06:28Aneta Borkowska hat die Initiative sofort nach Kriegsbeginn gegründet.
06:35Ich sehe, dass sie immer noch Hilfe brauchen.
06:40Sie kommen zu mir und bitten, Aneta, hilf uns, hilf uns.
06:44350 Menschen kommen regelmäßig zu uns.
06:46Am Anfang waren es 600.
06:48Die Stimmung kippt, die Solidarität schwindet.
06:52Werden sie ihren Status als Geflüchtete verlieren?
06:56Der Wandel in der Politik war schon vorher spürbar.
06:58Den rechten Kräften hat er jetzt geholfen, die Wahl zu gewinnen.
07:03Jetzt mache ich mir Sorgen, was mit den Ukrainern passieren wird.
07:06Nein, wir erwarten keine Privilegien.
07:12Wir wollen und können arbeiten.
07:15Nach wie vor gibt es viele Freiwillige, die hier helfen.
07:18Das Projekt wird aus Spenden finanziert.
07:20Aber neuerdings nimmt der Sozialneid zu, berichtet Danuta Kruk,
07:24die als Übersetzerin viel von Geflüchteten aus der Ukraine erfährt.
07:29Es gibt hier natürlich viele hilfsbereite Menschen.
07:33Aber wir begegnen hier andererseits auch negativen Reaktionen.
07:36Oft erleben Kinder in der Schule Ausgrenzung oder Ablehnung.
07:43Nicht weit von Danzig liegt Gedinja,
07:46ein beliebter Urlaubsort an der Ostsee.
07:53Hier leben Marcin und Radek, ein schwules Paar.
07:57Wir haben sie schon einmal getroffen, im Februar 2024,
08:01nach dem Regierungswechsel, als die Euphorie noch groß war.
08:06Auch bei Marcin und Radek.
08:08Bei Kaffee und Kuchen träumten sie davon, bald heiraten zu können.
08:11So wie Mann und Frau.
08:13Eine Ehe für alle, das war damals die große Erwartung an die neue Regierung.
08:17Ich habe schon angefangen, alle einzuladen.
08:22Meiner Familie sage ich, hör zu, es wird wahrscheinlich in zwei oder drei Jahren möglich sein.
08:26Die sind sehr dafür, wie die meisten Menschen, die ich kenne.
08:28Und heute? Wann steigt die Hochzeitsfeier?
08:35Die beiden sehen die Sache realistisch.
08:37Selbst wenn sich die Regierung jetzt endlich zusammenrauft und die Ehe für alle doch noch auf den Weg bringt.
08:42Es gibt überhaupt keine Begeisterung mehr bei diesem Thema.
08:45Der neue Präsident wird so ein Gesetz bestimmt nicht unterzeichnen.
08:49Wir müssen unsere Einladung um mindestens fünf Jahre verschieben.
08:54Überhaupt hat sich die Stimmung gewandelt.
08:56Draußen Händchen halten, das kommt für Marcin und Radek nicht in Frage.
09:00Höchstens im Wald allein und ganz kurz.
09:02Das ist ein Problem.
09:05Die soziale Stimmung erlaubt es nicht-heterosexuellen Menschen, nicht ihre Gefühle auf der Straße zu zeigen.
09:13Also wenn es um diese Art von Situation geht, bin ich da immer noch gestresst.
09:20Ist die Idee schon gescheitert, dass ein Land eine populistische Herrschaft einfach so überwinden kann?
09:26Ich glaube, dass es uns als Polen zurückwirft.
09:29So werden wir kein europäisches, modernes Land, in dem sich jeder wohlfühlt.
09:36Europäisch? Modern?
09:38Solche Zuschreibungen zählen hier eher als Vorwurf.
09:42Wir sind im Osten Polens, nicht weit von der Ukraine.
09:46Die Gemeinde Czhanów eine Hochburg des neuen rechten Präsidenten zu nennen, wäre eine Untertreibung.
09:53Fast 95 Prozent der Stimmen bekam er hier.
09:56Der junge Bürgermeister Marcin Czulowski ist mit diesem Ergebnis zufrieden.
10:04Es hat sich schon einiges getan, damit ein Präsident, der nicht zum engen Establishment gehört und nicht mit den politischen Parteien verbunden ist, gewählt werden konnte.
10:14Das Establishment der Europäischen Union hat hier im Ort übrigens zahlreiche Projekte finanziert.
10:20Was stört die Leute dann daran?
10:28Andrzej Jaworski ist Landwirt.
10:31Der 33-Jährige betreibt Ackerbau und Bienenzucht.
10:35Ihm fällt eine Menge ein, was er ablehnt und was der neue Präsident verhindern soll.
10:40Ehe für alle oder dritte Geschlechter, solchen Dingen wird er nicht zustimmen.
10:48Wir als Bauern müssen diese grüne Landwirtschaft stoppen, genauso wie die Zuwanderung, die muss auch gestoppt werden.
10:54Die Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine lässt auch hier nach, obwohl das Land im Krieg nicht weit entfernt ist.
11:03Was glaubt Jaworski, wie lange die Regierung noch durchhält?
11:07Diese Regierung wird nicht von Dauer sein. Im September werden sie Probleme haben, den Haushalt zu verabschieden.
11:12Zurück nach Warschau zu Ruzsa und Pawel, die immerhin noch daran glauben, dass Polen den Rechtspopulismus überwinden kann.
11:22Wir erwarten von der Regierung, dass sie effizient regiert und sich nicht hinter der möglichen Sabotage von Gesetzen durch den Präsidenten versteckt.
11:32Ich kann Ihnen versichern, dass die Jugendlichen, die jungen Polen auf die Straße gehen werden, wenn die Regierung nicht anfängt, ihre Versprechen umzusetzen.
11:39Jetzt hat die Regierung die letzte Chance, etwas zum Wohle der jungen Menschen zu tun.
11:46Und jetzt wird Pawel endlich noch den Brief loswerden.
11:50Ich habe einen Brief für den Parlamentspräsidenten, den hatte ich schon per E-Mail geschickt, aber ich will den auch persönlich abgeben.
12:03Meine Kontaktdaten stehen unten drunter. Danke sehr.
12:09Der Brief ist abgegeben.
12:12Er hofft auf eine Antwort und auf konstruktive Politik.
12:16Er weiß aber auch, die Gefahr ist groß, dass Präsident und Regierung sich gegenseitig ausbremsen und in Polen eine Blockade droht.